Biodiversitätsverlust - die große Herausforderung unserer Zeit


Von Michael Hahl  


Im Juni 2018 unterzeichneten über 20 Wissenschafttler des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums eine Frankfurter Erklärung, um "die Situation des Biodiversitätsverlustes in Deutschland aus Sicht der Wissenschaft zu bewerten und den Forschungs- und Handlungsbedarf abzuleiten". Der Biodiversitätsverlust mit seinen zu erwartenden Rückkopplungen sei "eine der größten Herausforderungen für die Menschheit".

Eine der zentralen Aussagen der Erklärung des renommierten Forschungszentrums lautet: "Der Verlust an biologischer Vielfalt ist ein globales, wissenschaftlich gut belegtes Phänomen. Das aktuelle Artensterben erreicht Verlustraten, wie sie nur von den großen Massenaussterbeereignissen der Erdgeschichte bekannt sind. Dies führt auch zu einem Verlust an Ökosystemleistungen, der weltweit immense volkswirtschaftliche Schäden nach sich zieht. Aktuell wichtigste Treiber des Biodiversitätsrückganges sind der Habitatverlust durch Umnutzung (Waldrodung, Grünlandumbruch), Siedlungen und Verkehrswege, Landschaftsveränderungen und Bodendegradierung, Nähr- und Schadstoffeintrag (z.B. Stickstoff, Phosphat, Pestizide, Herbizide), Übernutzung (Intensivierung), Klimawandel sowie invasive Arten."

Die Abstufung der Ursachen, welche in dieser Erklärung zu Grunde gelegt wird, ist weitgehend deckungsgleich mit aktuellen Daten aus der Roten Liste der IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources), die wiederum im Jahr 2016 auch von der Heinrich-Böll-Stiftung für einen Beitrag im Themenheft Nr. 3-2016 zur Biologischen Vielfalt aufgegriffen nud bewertet wurden.

Insbesondere in diesem Beitrag von Dietrich Schulz (aaO., S. 9 ff.) wird versucht, vielfältige Ursachen für den alarmierenden Biodiversitätsverlust in Relation zueinander einzuordnen und quantitativ zu bemessen, d.h. ein Ranking zu ermitteln. So geht daraus unter anderem hervor, dass - auch wenn man für mitteleuropäische Lebensräume klimabedingte Arealverschiebungen mit beispielsweise längeren sommerlichen Trockenheitsphasen (Aridisierung) annimmt -, auf wissenschaftlich herzuleitender Grundlage der Faktor "Klimawandel" erst an siebter Stelle in einer Rangfolge der größten Bedrohungen für die Artenvielfalt erscheint. Die weitaus gravierenderen Faktoren, die den Artenschwund beschleunigen, sind: Übernutzung, Agrarindustrie, Urbanisierung - und damit einhergehend Lebensraumverlust - sowie Arteninvasion und Krankheit, Verschmutzung und Umwelteingriffe.

In Zahlen ausgedrückt: Während die Übernutzung mit daraus resultierender Lebensraumzerstörung bzw. Habitatverlust über 6000 Arten bedroht, gehen gemäß Böll-Stiftung rund 1680 konkrete Bedrohungen der Artenvielfalt auf "Klimawandel" zurück (klimatische Schwankungen). Umwelteingriffe wiederum betreffen 1860 Arten. (Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung, Heft 3-2016, s. Link oben).

In der Frankfurter Erklärung des Senckenberg Forschungszentrums wird diese Abstufung aus anderer Perspektive ebenfalls aufgegriffen. Gewissermaßen politisch korrekt wird ergänzt "Nachhaltiger Artenschutz setzt auch Klimaschutz voraus", was grundsätzlich nicht falsch ist, gleichwohl allerdings - vgl. IUCN red list sowie Böll-Studie - in ein Ranking der Ursachendiskussion realistisch eingeordnet werden muss, um die Ursachenfrage angemessen beurteilen zu können. Demnach ist auch als eine der Schlussfolgerungen nahe liegend, dass vor allem Anpassungsstrategien zur Adaptation an klimatische Veränderungen bzw. Schwankungen eine maßgebliche Bedeutung erhalten müssen.

Damit sind wir wiederum beim Schutz der Lebensräume, der - auch im Sinne der strategischen Anpassung an Klimaschwankungen - das Kurs bestimmende Steuerinstrument gegen den Biodiversitätsverlust sein muss. Denn Habitatschutz ist ein ganz wesentlicher Faktor, um Ökosysteme und Lebensräume mit ihren Biozönosen, also Lebensgemeinschaften, erhalten und stabilisieren zu können. Und um darüber hinaus auch Biotopvernetzungen und Korridore zu ermöglichen, wodurch räumliche Ausbreitung der Lebensgemeinschaften bei unter anderem klimabedingten Arealverschiebungen überhaupt erst gewährleist werden kann.

Also immer wieder zentral: Intakte Lebensräume müssen geschaffen, geschützt und gestärkt werden! - Hierzu sei auch auf die fachlichen Beiträge über "Ökosystembasierte Ansätze zur Klimaanpassung und zum Klimaschutz" auf der Website des Umweltbundesamts verwiesen sowie auf die Studie Naturkapital Deutschland (TEEB – The Economics of Ecosystems and Biodiversity).


Hieran anknüpfend stellt sich die naturphilosophische Frage, ob ein Eigenwert der Schöpfung überhaupt auf "Naturkapital" und "Ökosystemleistungen" herunter gebrochen und damit quantifiziert werden sollte. Dies ist eine wesentliche Frage der Umweltethik und generell des Bewusstseins im Kontext der Mensch-Umwelt-Interaktion. Die Aussage, dass man Probleme "niemals mit derselben Denkweise lösen (kann), durch die sie entstanden sind", wird bekanntlich Albert Einstein zugesprochen; diese aufgreifend wäre die Frage zu stellen: Ist ein tiefer greifendes Umdenken, ein Bewusstseinswandel, erforderlich, um einigen der größten Herausforderungen für die Menschheit auf diesem Planeten zu begegnen? - Fraglos ja!


Will man allerdings pragmatisch und politisch an konkrete Lösungsschritte gehen, so sind die hier diskutierten Rangfolgen und die Quantifizierungen der natürlichen Grundlagen als Naturkapital – zum derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung – wohl unausweichlich, um den Bedrohungen auf dem Feld der Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen entgegen zu wirken. Im optimal wirksamen Fall sollten Naturethik und Naturkapital im Lauf der weiteren Entwicklung jedoch immer stärker ineinander greifen.

Vielleicht exakt so lange, bis die Qualität des Eigenwerts der Natur über ihrem quantifizierbaren Naturkapital stehen wird. Dann wird es – so die Vision – auch kein Ranking der Ursachen mehr benötigen, um die Wechselwirkungen der Geobiodiversität in einem Mensch-Umwelt-Kontext zu verstehen und aus dem quasi intuitiven Bewusstsein heraus die „richtigen“ Lösungen im Umgang mit der Natur zu finden. – Noch sind wir an diesem Punkt nicht angekommen und es braucht daher die nüchterne Analyse, um Ursachen und Wirkungen in ihren jeweiligen Rangfolgen zu erkennen.



Michael Hahl M.A., Geograph - Waldbrunn, 16.08.2018

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