Hüter der Bäume - oder: die Frage nach einem umweltethischen Konsens


Von Michael Hahl


Wer kennt noch Julia „Butterfly“ Hill? Sie lebte 1998/99 zwei Jahre lang auf einem Mammutbaum in 60 Meter Höhe, um den Wald der Umgebung vor dem Abholzen zu bewahren. Eine Umweltaktivistin des zivilen Ungehorsams, des gewaltfreien Widerstands wohlgemerkt, eine lebende Legende des Naturschutzes. - Vielleicht die wichtigste "Botschaft der Baumfrau", die ich - sofern ich sie richtig verstehe - mit ihr teile, hier in meinen Worten: Die größte Kraft im Engagement für Natur- und Umweltschutz ist die, die wahrhaftig aus dem Herzen kommt. Wer aus dem Gefühl tiefster Verbundenheit Wälder und Bäume, Flüsse, Bachläufe, Lebensräume oder Landschaften schützen will, der wird das beharrlichste Durchhaltevermögen aufbringen, die tiefste Überzeugung, den richtigen Weg zu gehen. Nicht fundamentalistisch, sondern eins und im Reinen mit seinem eigenen tieferen Sinn und Wesen.

Diejenigen, die aus Herzensverbundenheit den "Hambacher Forst" vor der Nutzung des Gebiets für den Kohleabbau schützen wollen, sind in Wahrheit denjenigen vollkommen wesensverwandt, die beispielsweise im Odenwald - am Stillfüssel, am Kahlberg, am Greiner Eck ... - aus authentischer Herzensüberzeugung heraus ihren Wald oder ihre Quellen und ihre vertrauten Landschaften vor einer industriell-technischen Überformung der Natur durch Windenergieanlagen schützen möchten. In beiden Fällen - ob für den Kohleabbau oder für die Windenergieindustrie - werden in der Summe Waldökosysteme, Habitate und Lebensgemeinschaften zerstört, wogegen sich naturverbundene Menschen wehren.  

Und nein, hier ist weder von einem nicht tolerierbaren Steinewerfen gegen Ordnungshüter als Mittel zum Zweck die Rede. Noch von Verbänden und Institutionen, die sich Naturverbundenheit auf die Fahnen ihrer gut bezahlten Ideologien schreiben wollen und diese gleichwohl instrumentalisieren, so etwa jene, die aus der einstigen Tradition einer Umweltorganisation mittlerweile zum Energieversorgungsunternehmen mutieren ... Nein, es geht hier um aktiven Naturschutz aus einem authentischen Gefühl der Herzensverbundenheit mit der Natur. Erstaunlich ist, dass sich die Wesensverwandten - im Hambacher Wald oder an den zahlreichen neuen industriellen Waldstandorten einer scheinbaren "Ökostrom"-Branche - dann vielfach nicht in ihrer im Kern identischen Motivation wechselseitig erkennen, gerade so, als würden ihre Herzen einen unterschiedlichen Takt schlagen. Dass es wiederum Menschen gibt, die meinen, sie könnten mit Fug und Recht das eine Waldökosystem vor einem bestimmten Zweck schützen, während sie das andere Waldökosystem leichtfertig zur Rodung freigeben, jeweils legitimiert durch ihre verklärte Ideologie, das ist doch wirklich sehr merkwürdig: Es zeigt, dass vielfach rational für oder gegen etwas gekämpft und dabei erstaunlich unkritisch mit zweierlei Maß gemessen wird. 

Auf der Ebene der Ideologien gibt es keine Wesensverwandtschaft, sondern Trennung, Spaltung, konträre Glaubensmuster. Verbindend ist dagegen das, was "auf einer Herzensebene" auf beiden Seiten stattfindet, ob am Hambacher Forst oder am Stillfüssel im Odenwald, ob angesichts des Kohleabbaus oder angesichts der Windenergienutzung in Wäldern und in naturnahen Landschaften, die sich bei derzeit 30.000 "dezentralen" Anlagen in Deutschland vielfach potenziert und - wenngleich gerne verharmlost - Flächenzerschneidung und Fragmentierung von Gesamtökosystemen betreibt, die summa summarum einer "zentralen" Degradierung der Lebensräume an Kohleflözen in nichts nachsteht. Genau betrachtet ist in punkto Geobiodiversität das Gegenteil der Fall: die Zerstückelung an etlichen Einzelstandorten wirkt sich degradierender für Lebensräume und Populationen aus als es weniger dezentrale Eingriffe bewirken könnten, aber das ist ein eigenes Thema, das den Rahmen dieses Beitrags sprengt. 

Nein, hier soll keineswegs einem fachlich fundierten umweltwissenschaftlichen Verständnis naive Robin-Hood-Romantik entgegen gehalten werden, darum geht es nicht. Und, nein, einfache Lösungen sind nicht erhältlich, so ist die Energiefrage eine der vielen umstrittenen, bislang noch ungeklärten Menschheitsaufgaben, wie alle Herausforderungen der Ressourcennutzung, der Nutzungsweisen, des Abbaus und der Gewinnung von lebenswichtigen Rohstoffen und deren Umwandlung in Produkte des täglichen Daseins ... Es sind schwierige Fragen, die keine simplifizierten Antworten ermöglichen. Im Kern letztlich die Überlegung: Wie sollen, wie können wir leben? 

Der Versuch einer Antwort ist ganz wesentlich wiederum an Bewusstseinsfragen gekoppelt. Auf einer tieferen Bewusstseinsebene ist eine Unterteilung etwa in "gute Wälder" und "schlechte Wälder" nicht zulässig. Ebenso wenig wie eine qualitative Aufspaltung des Prinzips der Ausbeutung der Natur, wenn diese je nach Ziel, Zweck und Ideologie unterschiedlich gewertet würde. Eine Nutzung unserer Ressourcen auf dem Erdplaneten ist fraglos erforderlich, und sie führt notwendigerweise zu Eingriffen in den Naturhaushalt. Aber der Umgang mit den Erfordernissen und die Nutzungsweise sind an eine zu Grunde liegende Entscheidung gekoppelt, an eine umweltethische Positionierung und innere Haltung dahingehend, mit welchen Werten wir zwischen einer einerseits spirituell-matieriellen Naturverbundenheit und andererseits substanziellen Notwendigkeit, Natur nutzbar zu machen, unsere Lebens- und Gesellschaftsformen gestalten. Auf welche Art und Weise wir unser Dasein auf der Erde realisieren. Wie wir leben.  

Diese inneren Werte sind nach meinem Verständnis diejenigen Haltungen und Handlungen, die wahrhaftig "aus dem Herzen" kommen. Wahrhaftigkeit ist das tief wahrgenommene Übereinstimmen des eigenen Handelns mit sich selbst. Im Prinzip wäre auch derjenige wahrhaftig, der einen Raubbau in seinem inneren Wesen für richtig hält und nach sorgsamer Abwägung diesem Weg authentisch folgt, etwa mit Verweis auf Lebensnotwendigkeiten oder gar auf Freiheit und Bewusstseinsentwicklung, die sich möglicherweise erst durch einen grundlegenden Versorgungswohlstand ergeben können. Oder im geoökologischen Sinne auf zeitlich versetzte Renaturierungen und Folgelandschaften im Nachgang eines aus seiner Sicht somit unvermeidlichen Eingriffs. Auch ein Verweis auf den deutschen Endenergieverbrauch sowie auf eine - bei gleichzeitigem Atomkraftausstieg - derzeit nicht ersetzbare Kohleverbrennung wäre durchaus eine realistische Form der Entschlossenheit und in diesem Sinne dann mit innerer Wahrhaftigkeit gesetzt. Alles das sind denkbare authentische Blickwinkel, ja.

Doch aus guten Gründen wage ich auf einer vielleicht doch noch etwas tiefer reichenden Ebene davon auszugehen, dass Menschen in ihrem innersten Kern den Eigenwert einer harmonischen Mensch-Natur-Beziehung erahnen und sich selbst wenigstens vage als Teil eines Ganzen wahrnehmen. Dass ein wachsender Anteil der Menschheit sich wieder als ungetrennt von einem "Einssein" erlebt oder ersehnt, auch wenn gegenwärtig wesentliche Aspekte eiens solchen "Urwissens" noch verschüttet sind - aufgrund von Ideologien und Lobbyismen, aufgrund von Rentabilitätsstreben, von Nutzungs- und Versorgungskonzepten, von puren existenziellen Notwendigkeiten, teils auch schlicht aufgrund von menschlichen Rohheiten, welche sich aus vielerlei Gründen entwickeln konnten. 

Ich gehe davon aus, dass es trotz alledem ein erstarkendes Bewusstsein der empathischen Verbundenheit mit allem Sein auf der Erde gibt. Und mehr noch - ich meine zu verstehen, dass die Menschheit sich in einem Entwicklungsprozess befindet, um diese Erkenntnis (wieder) zu entdecken. Und dass dieses Bewusstsein, dieser Geist, als Prinzip einer "Noosphäre" - verstanden als Sphäre der menschlichen Vernunft - jede Mensch-Umwelt-Interaktion nach und nach (wieder) durchdringen kann. - "Von der Natur hängt nicht nur unser physisches Überleben ab", schreibt Eckhart Tolle, einer der einflussreichsten Weisheitslehrer unserer Zeit, "wir brauchen die Natur auch, weil sie uns den Weg nach Hause zeigen kann, den Weg aus dem Gefängnis unseres Denkens heraus." Wo das Denken des Ego nicht mehr regiert, ist nur noch das Sein - und somit gewissermaßen das Einssein

Wenn sich die Gegner des Naturfrevels, die Kämpfer für Mensch-Natur-Verbundenheit hier wie dort auf einem gemeinsamen umweltethischen Nenner wiederfinden könnten, wäre vielleicht einiges verstanden und gewonnen und es könnte auf der Ebene eines neuen Bewusstseins so manches tatsächlich weiter wachsen und kooperativ neue Wege suchen und finden. Denn es wird um neue Wege und neue Konzepte gehen müssen, die sich strikt an der Beurteilung zu messen haben, inwieweit sie tatsächlich und jenseits ideologischer Scheuklappen und jenseits monetären Gewinnstrebens zu einem Leben und Wirtschaften in friedvoller Ausgewogenheit zwischen Naturnutz und immanentem Natureigenwert führen können.  

"Die ein gutes Leben beginnen wollen, die sollen es machen wie einer, der einen Kreis zieht", schreibt ein gewisser Eckhart von Hochheim, besser bekannt als Meister Eckhart, bereits vor sechshundert Jahren. "Hat er den Mittelpunkt des Kreises richtig angesetzt und steht der fest, so wird die Kreislinie gut. Das soll heißen: Der Mensch lernt zuerst, dass sein Herz fest bleibe (...), so wird er auch beständig werden in all seinen Werken." (Aus dem Zitat habe ich das "fest bleibe in Gott" herausgenommen, weil wir dies auch im mystischen Sinne heute wohl eher als vielleicht "göttlicher Wesenskern" übersetzen sollten.) - Zuerst im Herzen fest bleiben: Ein Dasein und Wirken im Einklang mit dem Planeten, den wir bewohnen, beginnt als feste, wahrhaftige und nicht diskutable Herzensverbundenheit mit der Natur.

Nur diese innere Haltung kann Antrieb für ein neues erdverbundenes Bewusstsein werden, und in diesem Kontext ist gewaltfreier Widerstand gegen Raubbau am Naturhaushalt zu verstehen, und zwar die ideologischen Grenzen transzendierend, und auch dann, wenn die wirklich alternativen Konzepte einer "neuen Erde" erst noch zu finden sind. Der Respekt und die Verantwortung für die Natur sowie die Kooperation zwischen Mensch und Natur, etwa im Sinne eines Hans-Peter Dürr, sind Leitmotive für diejenigen neuen Pfade, die beim Gehen entstehen. 

In diesem Sinne: Wie hätte sich wohl Julia „Butterfly“ Hill damals entschieden? Hätte sie ihre Verbundenheit zu einem Mammutbaum, dem sie den Namen "Luna" gab, unterschieden, je nach dem, zu welchem Zweck der Wald abgeholzt werden solle? Oder war es nicht eher gerade das Motiv zweckfreier Herzensverbundenheit, durch welche das - ihr so sehr ans Herz gewachsene - Waldökosystem vor dem Abholzen geschützt werden konnte? Egal wogegen, nur im tiefsten, stillen Wissen, wofür.

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